Neu: Pressemitteilung „Solidarität mit Naim Karimi“
Hans-Jochen Vogel ist am 26.7.2020 gestorben.
Er war einer der großen Sozialdemokraten, dem wir als Deutsche, als Bayern und nicht zuletzt als Miesbacher sehr viel verdanken.
Über seine Verdienste ist in den letzten Tagen schon viel geschrieben und gesendet worden (Trauerfeier im Bayerischen Rundfunk)
Wir konzentrieren uns hier auf seine vielfältigen Verbindungen zu Miesbach.
Zuerst aber soll er selbst zu Wort kommen.
Sie werden merken, das ist „der Vogel“, wie er leibt und lebt und über die Parteiverdrossenheit schimpft …
Hans-Jochen Vogel war mit Miesbach eng verbunden:
- Seine Großmutter besaß seit der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts in der Wies das Anwesen Ratzenlehen. Seine Ferienaufenthalte bei ihr gehörten zu seinen schönsten Kindheitserinnerungen.
- Nach dem Krieg war er im Jahre 1949 unter der Obhut seines Onkels (Amtsgerichtsrat Arnold Brinz) neun Monate lang als Gerichtsreferendar am Amtsgericht tätig.
- Hans-Jochen und Bernhard Vogel trafen sich auf Einladung ihrer Cousine Annemarie Brinz regelmäßig zu einem Familienadvent in Ratzenlehen.
- In seiner Zeit als Münchner OB erholte er sich oft mit seiner Familie in der Ferienwohnung im Miesbach-Mühlstatt.
Eine besondere Verbundenheit hatte Vogel mit Rudolf Pikola, dem Miesbacher Bürgermeister von 1960 bis 1970.
Hier zwei Sätze aus seine Gratulation zur Wahl Pikola 1960 (Vogel war auch 1960 zum ersten Mal in München gewählt worden):
Man merkt, da schreibt ein Mann mit Format. Vogel war auch 10 Jahre später bei Pikolas Beerdigung anwesend:
Für viele von uns ist ein Vortrag in Erinnerung, den er auf Einladung des früheren Miesbacher Stadtpfarrers Axel Meulemann in der Aula des Miesbacher Gymnasiums gehalten hat. Das Bayerische Fernsehen war damals dabei. Einige Bilder daraus tauchten wieder auf in der Sendung „Köpfe in Bayern – Hans-Jochen Vogel“ (BR-Fernsehen 27.7.2020 und ARD-Mediathek). Der Titel war:
„Christsein in der Politik“
Vieles darin liest sich wie ein persönliches Vermächtnis. Er hat alle Winkel des Themas sachkundig „ausgeleuchtet“. Dr. Vogel hat uns das Manuskript damals zur Verfügung gestellt. Mit freundlicher Genehmigung von Fr. Vogel können wir Ihnen den Vortrag im Wortlaut zum Lesen anbieten.
Für alle, denen elf Seiten zu viel sind, hier einige prägnante Zitate daraus:
Christliche Parteien
Es ist Sache des einzelnen Mitglieds – nicht der Partei – darüber zu befinden, aus welchen Überzeugungen und aus welchen Gründen er die gemeinsamen Wertvorstellungen einer Partei teilt. … Deshalb kann es auch nur Christen innerhalb einer Partei, nicht aber christliche Parteien geben. … Ich bin mir auch nicht sicher, ob Parteien, die sich ausdrücklich als christlich bezeichnen, den Erwartungen wirklich gerecht werden, die sie mit einem solchen Anspruch wecken.
Über die katholische Soziallehre
So kritisierte Leo XIII. die seinerzeit herrschenden sozialen Zustände in einer Art und Weise, die bis dahin aus dem Munde eines Papstes niemand für möglich gehalten hätte. … Auch die Forderung nach dem gerechten Lohn, die Bejahung der Pflicht des Staates, in die wirtschaftlichen Prozesse einzugreifen und die Ermutigung der Arbeiterschaft zur solidarischen Selbsthilfe standen keineswegs im Einklang mit den Auffassungen der damaligen Inhaber der staatlichen und wirtschaftlichen Macht, sondern näherten sich den Vorstellungen sozialreformerischer Kräfte. …
Die päpstlichen Aussagen, die ich soeben zitierte, kamen indes ganz offenbar um die Jahrzehnte zu spät, in denen sich substantielle Teile der Arbeiterschaft nicht nur in Deutschland von der Kirche im Stich gelassen fühlten und sich deshalb ihre eigenen Strukturen zur Lösung der sozialen Frage geschaffen hatten.
Zum II. Vatikanischen Konzil
Der entscheidende Durchbruch im Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und der Sozialdemokratie kam erst in der ersten Hälfte der 60er Jahre … Mit dem Zweiten Vatikanum kam auch die Entwicklung der kirchlichen Einstellung zur Demokratie zu einem positiven Abschluss.
Sinn und Orientierung – „archimedischer Punkt“
Ja, für mich gab und gibt es einen solchen Sinn und eine belastbare Orientierung für mein Handeln. Beide wurzeln in meiner Vorstellung von einem persönlichen Gott, dem ich Rechenschaft schulde und in der Anerkennung bestimmter Grundwerte, für die mir die christliche Botschaft eine überzeugende Begründung liefert. … Mir ist bewusst, dass andere auf anderen Wegen – etwas mit Hilfe des kategorischen Imperativs – zu vergleichbaren Folgerungen gelangen. … Aber ich käme mir leer und orientierungslos, ich käme mir wie ein Sandkorn im All vor, wenn ich diesen archimedischen Punkt nicht besäße oder wenn ich ihn verlöre.
Grenzen menschlichen Handelns
Was die Grenzen angeht, habe ich sie persönlich am stärksten vor jetzt 21 Jahren als Bundesjustizminister während der Wochen der Entführung von Hans-Martin Schleyer und dann anschließend der “Landshut” – der Lufthansa-Maschine – verspürt. … Man erfährt in dieser Situation vielmehr die Einsicht in die eigene Begrenztheit, in die eigene Endlichkeit. Aber man erlebt auch das stärkende Gefühl, das sich einstellt, wenn man glaubt, das Äußerste getan zu haben und dann die weitere Entwicklung in die Hand des Herrgotts legen zu können.
Kernenergie
Die Grenze, von der ich soeben sprach, die Grenze zwischen der Allmacht Gottes und der menschlichen Unvollkommenheit hat auch in anderen Zusammenhängen für mich eine Rolle gespielt. Beispielsweise hinsichtlich der Nutzung der Kernenergie, die ich bis in die 70er Jahre hinein befürwortet habe. … Ihre Nutzung lässt sich doch nur verantworten, wenn behauptet wird, es werde bei dieser Nutzung nie ein menschliches Versagen, nie einen Materialfehler und auch kein anderes unvorhergesehenes Ereignis geben; der Mensch sei vielmehr in der Lage, diese Technik absolut zu beherrschen. Das aber läuft eben darauf hinaus, dass der Mensch sich insoweit für allmächtig und allwissend erklärt.
”Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan”
Diese Stelle empfinde ich nicht als eine erbauliche Erzählung, sondern als einen konkreten Anruf in unsere Gegenwart hinein, der sich ohne weiteres auf die Asylbewerber und die Bürgerkriegsflüchtlinge, also auch die Fremden, die heute um Aufnahme bitten und auf die Armut und Not in der südlichen Hemisphäre, aber auch in unserem eigenen Land bezieht.
Positionen der Kirche
Mein Christsein möchte ich indes nicht in Frage gestellt wissen, weil ich mit bestimmten offiziellen Positionen meiner Kirche Probleme habe oder ihnen nach reiflicher Überlegung nicht zu folgen vermag. Dabei denke ich in diesem Zusammenhang nicht an innerkirchliche Kontroversen, wie etwa die über die Rolle der Frau in der Kirche und die Frauenordination, über den Zölibat, über das Verhältnis zwischen Priestern und Laien und über die innerkirchlichen Strukturen insgesamt. Oder an die Härte, mit der der Präfekt der Glaubenskongregation erst vor nicht allzu langer Zeit wieder den Wiederverheirateten begegnet ist.
Herausforderungen der Zukunft
Für mich kennzeichnen zwei Tendenzen vor allem die Gegenwart und die überschaubare Zukunft. Einmal der rapide Zuwachs an naturwissenschaftlichem Wissen und seine immer raschere Umsetzung in handhabbare Technik … zum anderen die Globalisierung. Und nicht minder gefahrvoll erscheint mir eine Entwicklung, die dem weltweiten Wettbewerb und damit dem Markt die wesentlichen gesellschaftlichen Entscheidungen überlässt und ihn aus einem – nützlichen – Instrument zum absoluten Herrscher werden lässt, obwohl er für die sozialen und ökologischen Folgen seiner Entscheidungen blind ist.
Bedeutung des Glaubens
In einer solchen Phase der Menschheitsgeschichte gewinnt der christliche Glaube an Bedeutung, wenn – ja wenn er den Menschen Orientierung und Lebenssinn zu geben und sie davor zu bewahren vermag, sich einfach treiben zu lassen oder nur noch ihren eigenen Vorteil zu suchen. … Wer es mit seinem so verstandenen Glauben ernst meint, wird sich nicht auf die Förderung des eigenen Seelenheils und Akte individueller Barmherzigkeit beschränken, sondern für gerechte und menschliche Strukturen kämpfen und sich dafür engagieren, dass für alles Tun ein wertbezogener Rahmen vorgegeben bleibt.
Übrigens sollten wir in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen, dass der Holocaust in einem Zeitpunkt stattfand, in dem fast 95 Prozent aller Deutschen einer Kirche angehörten. Das mag uns vor einer Überbewertung der formalen Kirchenmitgliedschaft bewahren.
Jesus im Parlament
Der Gedanke, der mir während mancher Parlamentsdebatte gekommen ist war: Was würde eigentlich passieren, wenn dort Jesus erschiene und das Wort nähme, ohne sich zu erkennen zu geben? Wie würden wohl die Abgeordneten und Zuhörer reagieren? Ich will … nicht der Frage nachgehen, was da wohl an Zwischenrufen gekommen und wie groß das Unverständnis und der Ärger wohl gewesen wäre.