Gisela Aicher: Die Penzberger Mordnacht aus der Sicht einer 10-Jährigen

Mein Name ist Gisela Aicher und ich wurde am 12.09.1934 in Gelsenkirchen-Horst geboren. Aufgewachsen bin ich in Penzberg, im heutigen Landkreis Weilheim-Schongau, ein Bergwerksort wie Hausham, wo ich seit meiner Verheiratung lebe.

Nach dem frühen Tode meines Vaters heiratete meine Mutter, Wilhelmine, am 1. April 1940 den Bergmann Hermann Werthmann. Dieser war Mitglied der KPD.

Auszug aus dem KPD-Parteibuch von Hermann Werthmann. Dieser war von 1929 bis zum Verbot 1933 Mitglied in der Partei.

Er war wegen seines Widerstandes gegen das NS-Regime von 1933 bis 1938 in verschiedenen Haftanstalten, darunter auch das KZ Dachau, interniert.

Dieser schon stark mitgenommene Entlassungsschein belegt die Inhaftierung von Hermann Werthmann im Konzentrationslager Dachau.

1943 wurde er sogar in die berüchtigte Strafdivision 999, einem speziellen Teil der Wehrmacht, dem nur politische Gegner und Kriminelle angehörten, eingegliedert.

Ein Auszug aus dem Wehrpass von Gisela Aichers Vater, Hermann Werthmann. Auf dieser Seite ist auch dessen Zugehörigkeit zum Strafbatallion 999 vermerkt.

Während des Krieges leistete mein Vater in Griechenland seinen Wehrdienst, desertierte allerdings 1944 und geriet in russische Gefangenschaft.

Das Foto zeigt Wilhelmine und Hermann Werthmann. Es wurde in Heuberg, dem Standort des Strafbataillons 999, kurz vor der Verlegung Hermanns nach Griechenland geschossen.

Das Aufwachsen in einer sehr politischen Familie, denn auch meine Mutter stand der politischen Gesinnung ihres Ehemannes sehr nahe, prägte mein Leben entscheidend.

Schwierige Kindheit im Nationalsozialismus

Diese Familienverhältnisse waren natürlich keineswegs gute Voraussetzungen für eine idyllische Kindheit in der Zeit des Nationalsozialismus.

Während mein Vater in Griechenland kämpfte, sogar zu Partisanen desertierte und später eine Zeit lang in russischer Kriegsgefangenschaft war, lebte ich mit meiner Mutter in Penzberg. Dass der Vater als Regimegegner weggesperrt worden war, war natürlich auch den Nachbarn bekannt.

Eine Mitgliedschaft in einer nationalsozialistischen Jugendorganisation kam für mich nicht in Frage, und so waren Schikane durch System-Sympathisanten keine Seltenheit. Trotzdem ließ sich meine Mutter, die sich nach der Desertation des Vaters sogar wöchentlich einer Befragung im Polizeipräsidium unterziehen musste, nicht einschüchtern. Heimlich hörten wir zusammen bis zum Kriegsende das deutschsprachige Programm der BBC. Das galt als Hören eines Feindsenders und wurde mit Gefängnis bestraft.

Sinnlosens Morden

Das wohl erschütterndste Ereignis sollte für mich allerdings erst gegen Kriegsende kommen. Es war der 28. April 1945, als nach dem Aufruf der Freiheitsaktion Bayern, der einen Umsturzversuch durch sozialdemokratische und kommunistische Akteure um Ex-Bürgermeister Hans Rummel zur Folge hatte, SS und Werwolfsverbände durch Penzberg zogen und am späten Nachmittag die Erschießung systemuntreuer Penzberger, viele gute Freunde meiner Eltern vollzogen. Einige der verfolgten versteckten sich im Nonnenwald, einem Waldstück, das direkt an Heimstättensiedlung, wo ich damals wohnte, angrenzte.

Am Abend zogen die Nazi-Schergen durch die Straßen und schossen in die Wohnungen von Regimegegnern in der Heimstättensiedlung. Informationen über die Wohnorte der Opfer hatten die Fanatiker von systemtreuen Nachbarn bekommen. Eines der Opfer war der ein paar Häuser weiter wohnende Sepp Kastl. Dieser wurde unglücklicherweise in seiner Wohnung von einer abgefeuerten Kugel getroffen. Panisch und voller Verzweiflung lief seine Frau durch die Nachbarschaft und rief nach Hilfe. Ohne zu zögern kam meine Mutter zu Hilfe, war doch auch Kastl ein guter Freund meines Vaters.

Mit dem Leiterwagen ins Krankenhaus

Weinend und mit Todesangst um meine Mutter, sah ich wie sie sich mitten in der Nacht mit einem Leiterwagen losmachte, um den verwundeten Kastl in das nächstgelegene Krankenhaus zu befördern. Trotz der großen Bemühungen unterlag Sepp Kastl seinen Verwundungen.

Auf ihrem Weg nach Hause erfuhr sie von einer Nachbarin von den gerade verübten Hängungen der SS entlang der Bahnhofsstraße in Penzberg. Diese tötete an jenem 28. April 1945 insgesamt 16 Menschen, darunter eine schwangere Frau. Freunde und Kameraden des Vaters, Sozialdemokraten, wie der ehemalige Penzberger Bürgermeister Hans Rummel, aber auch ein Ehepaar, wo kein politischer Grund für die Tötung vorhanden war, sondern eher von einer willkürlichen Aktion ausgegangen werden muss, fielen der Grausamkeit zum Opfer.

Flucht auf dem Fahrrad

So schnell wie es nur ging, lief meine Mutter nach Hause zu mir. In der Stadt war die Geschichte und die politische Einstellung meines Vaters bekannt und so machten wir uns daran Penzberg so schnell wie möglich auf einem Fahrrad zu verlassen, um bei einem befreundeten Bauern, der mit meinem Vater im KZ war, in Seeshaupt Zuflucht zu finden. Dort wurden auch desertierte Soldaten, gegen Kriegsende ein sehr beliebtes Ziel für Vergeltungsaktionen von SS-und Werwolfsverbände, versteckt gehalten.

Gewissheit, in unserer Wohnung in Penzberg wieder in Sicherheit leben zu können, hatten meine Mutter und ich erst wieder, als wir zwei Tage später amerikanische Panzer durch Seeshaupt in Richtung Penzberg rollen sahen. Ich kann mich heute noch gut erinnern, welch große Freude und Erleichterung das in mir ausgelöst hat, als ich an diesem Tage das erste Mal die US-Truppen sah, denn nun war klar, dass die Schrecken des NS-Regimes nun endlich ein Ende finden würden.

Unverständnis für Anti-Corona-Demos

Man kann nur zu gut nachvollziehen, warum sich Gisela Aicher heute über die aktuellen Anti-Corona-Demos erbost zeigt. Ihre Generation wisse wie es sei, unter der Herrschaft eines verbrecherischen Regimes zu leben. Bürger, die bei diesen Demonstrationen an der Seite von Anti-Demokraten mitmarschieren, wüssten das Leben in einem Staat wie Deutschland, vor allem in Anbetracht seiner dunklen Geschichte, nicht zu schätzen, meint Gisela Aicher.

Von den nachfolgenden Generationen wünscht sich Gisela Aicher vor allem Wachsamkeit und Interesse am politischen Geschehen, um Faschismus vorzubeugen und ein Wiederholen dieser schlimmen Zeit zu verhindern. So einem „Scharlatan“ sollte niemand wieder hinterherlaufen.

Das Interview führte Leon Walther.