Ansicht von Pressburg um 1900, US-Library of Congress (public domain)

 

75 Jahre Ende das II. Weltkrieges
In Erinnerung an meine Eltern Karl und Adele Langheiter, sowie an meine Oma Aloisia Ettl, geb. von Roth.

Eine Gedächtnisskizze von Carl Langheiter, geb. am 25.11.1941 in Pressburg

Als ich meine Geburtsstadt Pressburg verlassen musste, war ich gerade 3 1/2 Jahre alt. Es ist verständlich, dass ich mich an kaum ein Ereignis erinnern kann, abgesehen von Erinnerungsfragmenten die ab und dann aus den Tiefen meiner Kindheit ans Tageslicht gelangen, so ist mir der größte Teil meiner frühen Kindheit nicht allzu gegenwärtig. Für mich war das grauenhafte Geschehen des Krieges weitgehend nicht präsent. Ich fand mich in Obhut meiner Mutter und meiner Oma, die mich und meine Schwester Adele liebevoll beschützten. Da meine Schwester zur Zeit der Flucht schon fast 6 Jahre alt war, nahm sie natürlich alle Ereignisse wesentlich intensiver wahr als ich. Das Trauma ihrer Flucht dauerte noch sehr lange. So traten immer Ängste auf, wenn sich ein Flugzeug am Himmel zeigte. Das Trauma eines Bombenangriffs ergriff sie und sie versteckte sich blitzschnell hinter einem Baum, um Schutz zu suchen. Erst nach und nach, als wir schon im friedlichen Bayern waren und sich auch Freunde und Freundinnen einfanden, schüttelte sie die Ereignisse ab und überwand zunehmend ihr Trauma.
Unsere Flucht begann in den ersten Tagen im April 1945 als die Rote Armee begann, Pressburg zu erobern. Als von Osten sowohl die 46. Ukrainische Armee und die 53. Russische Armee gegen Pressburg (heute: Bratislava) zogen und die Bedrohungslage der Stadt immer größer wurde. Man muss wissen, dass Pressburg damals zur Festung erklärt wurde, was bedeutet, dass bei einer Übernahme oder Eroberung der Stadt vorher die Zerstörung durch deutsche Truppen erfolgen würde, um die Stadt nicht den Russen übergeben zu müssen. Viele Häuser, gerade öffentliche Gebäude, wurden unterminiert, da im Falle der Eroberung diese zerstört werden sollten. Gottlob entkam die Stadt einer größeren Zerstörung, Ein 1. Angriff der Russen erfolgte am 25.3.45, am 4.4.45 erfolgte dann die Besetzung von Pressburg. Die Rote Armee zog noch bis über Wien hinaus und unterwarf Teile von Österreich. In dieser Zeit zogen sehr viele deutsche Familien weg aus Pressburg, wodurch die damals multi-ethnische Bevölkerung aus Deutschen, Ungarn und Slowaken eine dramatische Veränderung erfuhr. Die ehemalige deutsch-österreichische Geschichte, mit dem Höhepunkt der Krönung Kaiserin Maria Theresias in Pressburg, war Vergangenheit, war Geschichte geworden.
Unter dieser Entwicklung und unter der ständigen Gefahr von den Russen „überrollt“ zu werden, entschloss sich meine Familie, Pressburg zu verlassen und zu fliehen. Mein Vater lag zu dieser Zeit verwundet von den Normandie-Kämpfen in einem Lazarett in der Nähe von Berlin. So mussten meine Mutter und meine Oma (mütterlicherseits) alleine mit uns Kindern ihre Heimat verlassen. Ihr Hab und Gut verstauten sie auf einem bereitstehenden Lastwagen, nahmen noch einige Wertgegenstände mit und verließen eiligst die Stadt. Schon nach wenigen Kilometern wurde der kleine Treck, bestehend aus einigen Lastwägen, von den Russen attackiert. Den Beschuss konnten wir nur entkommen, in dem wir uns unter den Lastwagen in Deckung brachten, jedoch die Habe wurde vollkommen zerstört. Glücklich war meine Mutter dennoch, da sie und ihre Kinder ohne körperlichen Schaden aus der lebensbedrohlichen Lage entkommen konnten.
Durch diese außergewöhnlichen Ereignisse hatten meine Mutter und meine Oma kaum Zeit, so berichteten sie mir, um noch wehmütig ihrem Zuhause nachzutrauern. Ihre traute Heimstatt, die sie nie wieder so erleben sollten….
Nur ganz wenige Gedächtnissplitter erinnern mich an unser Haus am Hang unterhalb der Burg. Nur soweit erinnere ich mich, dass wir einen Schäferhund namens „Schani“ hatten, wir liebten uns und er war für mich Spielkamerad und Aufpasser zugleich. Kein unbekannter Mensch durfte sich mir nähern. Als einziger durfte ich in seiner Hundehütte übernachten. Den Hund konnten wir leider nicht mitnehmen, er fand jedoch bei der Familie Appel (Onkel Alois und Tante Margareta mit Sohn Loisi) die in Pressburg verblieben, ein neues Zuhause.
Wir verließen unsere Heimat, weitgehend zu Fuß, Richtung Norden und wollten uns mit Papa in Berlin treffen. Teilweise zu Fuß und auch mit Zug ging es Richtung Norden. Es dauerte sehr lange, bis sich von Ort zu Ort eine Möglichkeit des Transportes ergab, viele Bahnstrecken waren zerstört oder anderweitig nicht mehr in Betrieb. Über Brünn ging es meist in langen Flüchtlingszügen nordwärts. So kamen wir in ein kleines Dorf namens Oschitz, nahe Schleiz in Thüringen. Wir fanden bei Bauern Unterschlupf und spärliche Versorgung. Es war verständlich, da sie selbst hungerten und kaum etwas zu Essen hatten. Dort, in einem winzigen Rinnsal fand ich einmal einen Fisch, den ich freudestrahlend meiner Oma übergeben wollte, leider kam mir ein Dorfjunge in die Quere und entriss mir meine Beute. Ich weinte bitterlich.
In dieser Zeit fanden auch immer wieder Angriffe von Jagdflugzeugen statt, es waren wohl englische Spitfire oder amerikanische Mustangs, die immer wieder Jagd auf Flüchtlingszüge und Bahnhöfe flogen. Schnelle und tödliche Waffen. Eine kleine Episode aus unserer Flucht erzählt, dass bei einer der zahllosen Luftangriffe, es dämmerte schon, der örtliche Bahnhof in hellem Lichte stand. Ein idealer Angriffspunkt, meine Oma couragiert wie sie immer war, eilte zum Bahnhof und riss den Hauptschalter der Streckenbeleuchtung herum und in plötzlicher Dunkelheit verloren die Piloten ihr Ziel. So vereitelte meine Oma einen weiteren Flugzeugangriff. Nach einiger Zeit des Aufenthalts ging die Flucht weiter nach Reichenbach, Sachsen, wo ständig verheerende Bombenangriffe über uns hinweg zogen. Es waren B-17 Bomber, sogenannte „Fliegende Festungen“ die in einer großen Höhe ihre totbringende Fracht über Reichenbach entluden. In Reichenbach war eine Außenstelle der Horch Automobilwerke, also ein lohnendes Angriffsziel. Um uns Kindern den Anblick von vielen Leichen zu ersparen, band uns unsere Mutter die Augen zu.
Ursprünglich wollten wir nach Berlin, da sich aber bereits der Ring um Berlin immer fester schloss, und die Kampfhandlungen immer heftiger wurden, entschieden sich Mutter und Oma nach Süden, in die amerikanische Zone, in die „Freiheit“, zu flüchten. Denn: in eine russische Gefangenschaft zu geraten, war ihre größte Angst. Es war weit vor einer eventuellen Flucht oder einer Vertreibung festgestanden, dass im Falle eines Falles, wenn die Kriegswirren uns entzweit hätten, der gemeinsame Treffpunkt der Familie nach Zerstörung, Not und Flucht, unsere Tante Leopoldine, in München sein sollte. Sie war die älteste Schwester meines Vaters und hatte schon lange Zeit zuvor nach München geheiratet. Da es sich als schwieriger erwies als geplant, kam uns ein Schutzengel in Form eines hilfsbereiten Bauern zu Hilfe. Seine Äcker befanden sich sowohl in Thüringen als auch in Bayern und er brachte uns auf einen mit Mist beladenen Karren über die Demarkationslinie in die amerikanische Besatzungszone nach Bayern. Wie wir eines Tages in München ankamen und wir mit unserem Vater wieder vereint wurden, ist mir leider nicht in Erinnerung geblieben. Ich fragte nie nach, war ich doch sehr glücklich, dass wir endlich wieder vereint und eine „richtige“ Familie waren. In München angekommen, fanden wir im Lager in der Stielerschule, nächst der Theresienwiese unsere vorübergehende erste Heimat. Dort nahmen wir Kontakt mit unserer Tante auf, die uns freudestrahlend begrüßte. Das Lager war mit Hilfe der Stadtadministration und des amerikanischen Stadtkommandanten eingerichtet worden. Dort hatte ich die ersten Begegnungen mit einem Neger (damals war der Name nicht diskriminierend!), er nahm mich in seine Arme, ich schrie himmelschreiend, da ich furchtbare Angst hatte ob solchen „Wilden“. Als er jedoch seinen Mund zu einem Lächeln verzog und seine schneeweißen Zähne funkelten, verlor ich zunehmend die Angst und ich fand ihn durchaus sympathisch. Erst recht, als er mir Schokolade und einen Vorrat an Kaugummi zusteckte. Ein neuer Freund war gewonnen!
Nach dieser Lagerzeit ging es am 20.1.1946 nach Miesbach und in die Wies in den Schweintaler Hof, wo wir zur Unterbringung versammelt und an Bauern verteilt wurden. Wir hatten großes Glück, da wir zum Meßmer Bertl in die Obere Wies beim vorderen Gießhof kamen. Dort unter liebenswerten Mägden, Knechten und auch vielen Tieren wie Hühnern, Kühen und Pferden erging es uns so gut, dass unsere Flucht von uns Kindern schnell überwunden wurde. Wir waren glücklich und ich werde nie vergessen, wie umsorgt wir vom Meßmer Bertl und seiner Familie wurden. Seit dieser Zeit lasse ich nichts über unseren Bauernstand kommen! In dieser für uns so glücklichen Nachkriegszeit ist auch eine lustige Episode zu verzeichnen, die sich im Winter 1947 zugetragen hat:
Wie in dieser Nachkriegszeit üblich, durchzogen viele Leute und Hausierer die Gegend um etwas zum Essen zu organisieren. An einem Nachmittag kam so ein Hausierer zum Bauernhof und bot neben verschiedenen Waren auch eine Tüte mit Samen an. Nach seiner Beteuerung enthielt die Tüte reinsten Tabaksamen. Mein Vater und Bertl erstanden in heißer Begierde die Tüte, die sogleich wilde Träume entfachte, wie erfolgreich sie als Plantagenbesitzer die umgebenden Bauern mit Tabak versorgen könnten. Kaum war der strenge Winter vorbei, zog Bertl mit seinen zwei Pferden Furche um Furche in den noch feuchten Boden. Mein Vater, Kompagnon, säte den Tabak Reih um Reih in den frischen Humus. Jeden Tag sahen sie nach, ob sich schon etwas rege und sich frisches Tabakgrün zeige. Es spross und je größer die Saat wurde, desto länger wurden ihre Gesichter. Denn: Es zeige sich schon bald, dass sie einem Betrüger aufgesessen waren, denn aus dem Tabak wurden Brennnesselstauden, die bald über und über wucherten. Diese Tat blieb nicht lange verborgen und man erzählte sich noch lange Zeit am Stammtisch in Schweinthal die Geschichte von den zwei Tabakbaronen!
Nach dieser unbekümmerten Zeit übersiedelte meine Familie am 31.5.1948 in die Hilm zum Heckelsmüller auf den Harzberg, wo sich meine Eltern mit der ansässigen Familie Duschl herzlich verstanden und sich eine innige Freundschaft entwickelte. Gemeinsame Tanzveranstaltungen im Stadelberghaus vertieften ihre Zuneigung. Wir Kinder genossen die Unbekümmertheit früher Kindertage. Die Zeit war geprägt von abenteuerlichen Unternehmungen am ganzen Harzberg. Der Harzberg war damals noch unverbaut, lediglich das Schloss und der Lindlbauer standen dominierend auf der Höhe. Für uns bot sich damit eine riesige Spielwiese an. Die entbehrungsreichen Kriegsjahre und der Verlust der alten Heimat waren für uns Kinder zunehmend in Vergessenheit geraten. Eine schöne Kindheit folgte. Durch die Anstellung meines Vaters bei der Regierung von Oberbayern im Lastenausgleichsamt war ein abermaliger Wohnungswechsel, diesmal am 22.11.1951 notwendig, der uns in das Haus Haidmühlstraße 76 ½ (jetzt Nr. 2), damals Gendarmerie genannt, führte. Hier kamen weitere liebgewordene Freunde hinzu, diese Freundschaften dauern bis heute, also mittlerweile schon mehr als 70 Jahre an.
So kamen wir nach Oberbayern, in unsere liebgewordene neue Heimat. Eine Integration fand dank der gemeinsamen sprachlichen Wurzeln, meine Vorfahren stammen alle aus Österreich, sehr schnell statt.

Nachtrag:
An dieser Stelle sei erwähnt, dass sich meine Eltern die sicherlich vorhandenen Sorgen und Probleme über die zu bewältigenden Kriegsgeschehnisse nie etwas anmerken ließen. Sie waren immer bemüht, uns Kindern eine sorglose und behütete Kindheit zu ermöglichen.

Carl Langheiter