Seit über 40 Jahren arbeitet, lebt und wirkt Inge Jooß in Miesbach. Die frühere Realschullehrerin für Deutsch, Geschichte, Sozialwesen und Religion engagiert sich seit dieser Zeit segensreich in der Kreisstadt: Seit vielen Jahren ist sie Mitglied der SPD-Fraktion im Miesbacher Stadtrat, war Kulturreferentin, betreut als Integrationsbeauftragte der Stadt Miesbach Geflüchtete und engagiert sich in der Katholischen Kirche, der Kinder-, Bildungs- und Seniorenarbeit. Seit wenigen Wochen ist sie Trägerin der Miesbacher Bürgermedaille. Angesichts der aktuellen politischen Ereignisse und der daraus resultierenden Folgen hat sie ihre Gedanken niedergeschrieben, die wir gerne veröffentlichen:

Meine “aus der Not geborenen“ Gedanken

Ich betreibe jetzt Nabelschau, blicke nicht nach Österreich, Ungarn, Dänemark oder gar in die USA. Ich sitze hier in Miesbach und bin fassungslos. Es ist nicht so, dass ich nicht mit schlechten politischen Nachrichten umgehen kann – es waren doch schon recht viele während meines Lebens. Aber ich fühle mich zum ersten Mal aus der Bahn geworfen und ratlos.

Am 27. Januar gedenken wir der Opfer des Nationalsozialismus und wir reden dabei von einem riesigen, bisher kaum bewältigten Berg an Vergehen gegen die Menschlichkeit, aufgehäuft von dem Volk, in das ich hineingeboren wurde. Unsere Eltern und Großeltern haben sehr, sehr lange geschwiegen, jetzt erzählen die letzten Zeugen. Und immer fällt der Satz:

“Nie wieder!“

Das heißt doch: nie wieder Ausgrenzung, nie wieder Entwürdigung und Entmenschlichung von Kindern, Frauen und Männern, nie wieder eine rassistische Hierarchie.
Stattdessen: Menschenrechte, Menschenwürde, Verantwortung und Solidarität. Die Grundrechte in unserer Verfassung sagen das eindeutig.

Aber was passiert jetzt? Die Wahlkämpfer fokussieren sich auf das Thema „Migration“ – und damit auf alle Themen, die mit Ausländern, Fremdsprachigen, Dunkelhäutigen, Andersgläubigen, Kriegsflüchtigen, Perspektivlosen, Einwanderern der letzten 3 Generationen zu tun haben. Die Liste ist fortsetzbar.
Es sieht so aus, als könnte die Lösung der Migrationsfrage der Schlüssel zum Paradies sein – allerdings nur für die, die all das haben, was nicht selbstverständlich ist: Sicherheit, Freiheit, Wohlstand.

  • Es geht um Menschen – aber es kommen Zahlen!
  • Es geht um den Schutz, zweifellos wichtigen Schutz vor Kriminellen und Terroristen – nicht um den Schutz vor Krieg, Katastrophen, Gewalt und Not. Asylsuchende sind Schutzsuchende!
  • Es geht um unsere Werte, Besitz, Ruhe, Ordnung – nicht um Menschenwürde.

Wir haben wieder mal eine Hierarchie von Werten geschaffen – was wir für uns brauchen, steht ganz oben.

Nun sind wir aufgrund unseres ehrenamtlichen Engagements und unserer persönlichen Interessen nicht aus der Realität gefallen. Wir sind informiert über die sozialen und politischen Verhältnisse in Europa und der Welt (aus hoffentlich zuverlässigen medialen Quellen) – und wir kennen aus eigener Anschauung die Überlastung der Behörden, der Institutionen und auch der Bevölkerung durch die hohen Zahlen von Geflüchteten.

Auch wir wünschen uns, dass weniger Menschen zu uns kommen, die Hilfe brauchen auf dem Weg zu ihrer Integration. Auch wir möchten, dass gewaltbereite Straftäter ihre Strafe bekommen und das Land verlassen müssen. Auch wir finden es traurig, dass die Solidarität innerhalb Europas große Lücken aufweist – und vor allem unterstützen wir alle Initiativen, finanziellen, personellen und institutionellen Hilfen für die Bevölkerung in den Herkunftsländern.

Wir wissen aus eigener Anschauung, dass niemand gern seine Heimat verlässt, um in eine neue Umgebung zu kommen, die mit Kälte und Ablehnung reagiert. Aber wir kennen auch seit Jahrzehnten viele Migranten, die unentbehrlich geworden sind, friedlich mit uns leben, uns kulturell bereichern und mit ihren Leistungen den deutschen Staat mittragen.

Stellen wir uns gegen jede unverantwortliche Verallgemeinerung: afghanischer Mörder – alle Afghanen sind kriminell. Lehnen wir jegliche Remigration ab – am besten alle nach Hause, dann haben wir Ruhe! Fördern wir alle Bemühungen um klare Einwanderungsregelungen – Bildungs- und Ausbildungswege kann man nachholen!

Lasst uns eine Politik unterstützen, die schnellere Asylverfahren (aber keine Abschaffung des persönlichen Asylrechts), eine effektive Bekämpfung von Kriminalität und eine effiziente Justiz finanziert. Das kostet Geld, das gut angelegt ist! Wehren wir uns laut und aktiv gegen jegliche Form des Rassismus, der Menschenverachtung und Demokratiefeindlichkeit – wir sind schließlich die Mehrheit! Lassen wir nicht zu, dass unsere Grund- und Menschenrechte schrittweise zerstört werden – seien wir stolz auf sie!

Ich komme nochmal auf den 27. Januar zurück, den „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“: Wie können wir der jüngeren Generation ein Vorbild sein, wenn wir eine Politik der Abweisung, Diskriminierung und Zerstörung von Grundrechten vertreten – die durchaus an eine andere Zeit erinnert?

Inge Jooß